Dokumentation des Workshops mit Praktiker*innen, Projektkoordinator*innen und Wissenschaftler*innen zur Passung künstlerischer Formate in unterschiedlichen Kontexten am 18. Oktober 2023 von 14:00-16:00

Veranstalter*innen: Öko-Institut e.V., tdAcademy, Themenlinie 4 „Neue Formate“ (B. Brohmann, M. Mbah) in Kooperation mit Hoernemann & Walbrodt (J. Hoernemann, Walbrodt, Bonn)

Hintergrund und Ablauf

Mit der Vorstellung dreier sehr unterschiedlicher transdisziplinärer Kunst- und Kultur-Ansätze (sog. künstlerische Formate) sollten – gemeinsam mit den Workshopteilnehmer*innen – die Besonderheiten und Gemeinsamkeiten von Kunst- und Kulturformaten in unterschiedlichen Kontexten (lokal/regional im ländlichen Raum und in einem schulischen Kontext in der Stadt) herausgearbeitet werden. Entsprechend der übergreifenden Fragen der Tagung nach Sichtbarkeit und Erlebbarkeit von kommunalen Angeboten sowie den Bedingungen kultureller Teilhabe wollten wir die Ziele und Zugangsmöglichkeiten der spezifisch für unterschiedliche Räume und Zielgruppen konzipierten transdisziplinären künstlerischen Ansätzen mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturpraktiker*innen diskutieren. Im Fokus des Interesses standen vor allem Fragen der Initiierung, notwendiger Rahmenbedingungen und möglicher Beteiligungsoptionen.

Vertieft werden sollte der Erfahrungsaustausch am Beispiel von drei konkreten Projekten:

  • ein kommunaler Ansatz (AExpertirience, Samtgemeinde Wathlingen), der u.a. durch Einladung und Aktionen in bislang „kunstfernen“ Räumen neue überraschende Perspektiven auf Verwaltung und deren Abläufe eröffnet;
  • ein regionaler Ansatz (Innehaltestellen/Land und Kultur gestalten Dresden-Nossen), der mit der Wiederbelebung von (verlassenen) Bushaltestellen kleine, von Bürger*innen selbstgestaltete, Kulturräume entwickelt sowie
  • ein schulischer Ansatz (Kreativität in Zwischenräumen, IGS Bonn), der über ein Jahr lang den Alltag von Schüler*innen einer Integrierten Gesamtschule in Bonn künstlerisch begleitet hat.

Workshop-Ablauf

Der zweigliedrige Workshop umfasste die folgenden Schritte:

Teil 1 zu kommunalen und regionalen Erfahrungen:

  • Begrüßung und kurze Vorstellung (Soziogramm)
  • Input zu den Formaten im kommunalen und regionalen Kontext inkl. Nachfragen
  • Moderiertes Gespräch mit den Initiatorinnen zu besonderen Einzelaspekten
  • Diskussion und Erfahrungsaustausch mit allen Workshopteilnehmer*innen

Teil 2 zur Erfahrung im schulischen Kontext:

  • Begrüßung und Orientierung (Teil 1)
  • Input zum Format Schule inkl. Nachfragen
  • Moderiertes Gespräch mit den Initiatorinnen zu besonderen Einzelaspekten
  • Diskussion in der Gesamtgruppe, die die Erkenntnisse aus allen Erfahrungen sowie Gründe und Herausforderungen in verschiedenen Kontexten zusammenbringt

Impulsgeber

Abbildung 1: ImpulsgeberInnen und Moderation, Aufnahme B. Brohmann 2023

Inhaltliche Schwerpunkte und Diskussion

Ein inhaltlicher Leitgedanke, der die drei vorgestellten Projekte trägt und die Diskussion im Workshop verband, ist die Idee, dass Kunst nicht ausschließt, sondern im Gegenteil jeden Menschen in seiner/ihrer Einzigartigkeit, Irrationalität und Verantwortlichkeit auch als Künstler*in sieht (Walbrodt 2023). Es ging den beteiligten Künstler*innen mit ihrer „Anstiftung“ darum, durch die Verbindung der Menschen im Möglichkeitsraum Kunst die eigenen Grenzen (von Wahrnehmung, Gedanken, Handlungsalternativen) zu überwinden, sich auszuprobieren (Verhaltensänderungen) und damit auch eine neue Wirklichkeit zu entdecken (Motivation).

Diskursrunden zu besonderen Einzelaspekten

Bei der kommunalen Aktion in der Samtgemeinde Wathlingen mit der temporären Einrichtung eines „Grundsatzamtes für Unmögliches“, eines „Ateliers für alle“ oder der Initiierung eines „Ich-Du-Wir-Alle“-Tages wurden verschiedene Aktionen und Orte miteinander verbunden. Es wurde im Workshop diskutiert, was den Kern dieses künstlerischen Formats ausmachte und wie die verschiedenen Schritte/Stationen ausgewählt wurden. Hier gab es vonseiten der Künstler*innen zunächst eine vorgelagerte Recherche und Interviews (gemeinsam mit Wissenschaftler*innen), auf deren Basis ein erstes Konzept entwickelt wurde. Bewohner*innen wurden dann mit für sie überraschenden Aktionen an ursprünglich vertrauten Orten (z.B. ihrer früheren Verwaltung) oder neuen Orten (Bauwagen: Ein Ort zum Wohlfühlen) beispielsweise mit alten Büromaterialien oder einem Geschenkeraum – also verschiedenen künstlerischen Interventionen – konfrontiert und zum Mitmachen motiviert. Dabei wurden im Kontext von Wathlingen vor allem auch Themen der Nachhaltigkeit adressiert. Es wurde zusammengetragen, was Bürger*innen an ihrem Ort interessiert und wie sie sich mit der dortigen Entwicklung identifizieren.  

https://hoernemann-walbrodt.de/aexpertirience/

Ein anderer Ansatz wurde mit der Einrichtung von Kunstaktionen in (ehemaligen) Bushaltestellen verbunden. Das Projekt „Innehaltestellen“ umfasste ebenfalls sehr unterschiedliche Aktivitäten mit verschiedenen Zielen. Die Idee entstand auf einer Reise entlang einer regionalen Busstrecke, die sehr reduziert bis gar nicht bedient wird, aber gleichzeitig markante Haltestellen aufweist, die als Örtlichkeit für Aktionen hohes Potenzial haben, um die Themen Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und die Bedeutung des ÖPNV neu erfahrbar zu machen. Im Rahmen von Aktionstagen wurden die Häuschen gestaltet und neu genutzt (z.B. durch Ausstellungen, Musik, Kunstaktionen) und gleichzeitig alternative Möglichkeiten der Mobilität angeboten und ausprobiert. Dabei ging es auch um die Schaffung neuer sozialer Verbindungen zwischen den einzelnen Dörfern des Landkreises und die bessere Sichtbarkeit von engagierten Gruppen und Einzelpersonen. Um diese Aspekte kümmert sich auch ein regionaler Verein (Landgestalten e.V.) mit dem die Künstler*innen kooperierten und der im Rahmen seiner Projekte „Land und Kultur gestalten“ weitere Kontakte vermitteln konnte – hier wurde ein Ortsbürgermeister als zentraler Unterstützer gewonnen, über den auch die Verstetigung der Idee der „Innehaltestellen“ gewährleistet werden konnte. Sie verbindet so künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum mit dem kreativen Engagement von Dorfgemeinschaften.

 Innehalten

Abbildung 2: Innehaltestellen als Orte der Teilhabe für Kinder und Jugendliche. Aufnahme: M. Ihl, 2022

https://hoernemann-walbrodt.de/innehaltestellen-miteinanders/

Der schulische Ansatz „Kunst in Zwischenräumen“ in einer integrierten Gesamtschule in Bonn ging von der Idee aus, dass durch kreative Interventionen und künstlerische Ausdrucksformen die Wahrnehmung für den Raum verändert werden kann und dadurch auch bei den Nutzer*innen Veränderungen ausgelöst werden. Vor dem Unterricht und in den Pausen haben die Künstler*innen die „öffentlichen“ Räume der Schule aufgesucht, um zunächst zu beobachten, auf Vorhandenes zu reagieren und unterschiedliche „Verfremdungen“ durch Performances auszuprobieren. Hier stellte sich in der Diskussion im Workshop die Frage danach, ob nachhaltig Veränderung initiiert werden konnte, d.h. ob über den Zeitraum hinweg bereits Wirkungen – z.B. in Form von Verhaltensänderungen – beobachtet werden konnten und inwiefern die Räume von den Nutzer*innen neu wahrgenommen wurden. Die Künstler*innen berichteten von sehr positiven Reaktionen der Schüler*innen, z.B. auf die direkte Ansprache und Frage nach ihren persönlichen Wünschen oder der persönlichen morgendlichen Begrüßung, während indirekte Ansprachen zwar Aufmerksamkeit, aber kein explizit positives Feedback erzeugten. Dieser hier beobachtete Effekt einer direkten Wahrnehmung und Wertschätzung wurde auch von den Erfahrungen anderer Workshopbesucher*innen geteilt.

Workshop 4

Abbildung 3: Umgestaltung vorhandener Objekte, „Kunst in Zwischenräumen“, Aufnahme H. Neumann, 2022

https://hoernemann-walbrodt.de/kreativitaet-in-zwischenraeumen/

Ergebnisse

Als ein zentrales „Ergebnis“ für die kommunalen und regionalen Aktivitäten wurde das erfolgreiche Zusammenbringen, die Integration und Aktivierung von Menschen an den jeweiligen Orten und Ereignissen formuliert. Die identifizierten Orte (im kommunalen und regionalen Raum bzw. im schulischen Kontext) weisen stark unterschiedliche Ausgangsbedingungen – und Problemlagen – auf. In Wathlingen lag die Herausforderung darin, vom „Gegeneinander zum Miteinander“ zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Projektteam zu gelangen. Während beim Projekt der Innehaltestellen Nachhaltigkeit und Gemeinschaft in einer sehr ländlichen, auf Individualverkehr fokussierten Region mit hohen Pendlerzahlen im Fokus standen. Im Schulprojekt hingegen lag die Herausforderung vielmehr darin, Aufmerksamkeit für die Umgebung und das Infragestellen routinierten Verhaltens zu erreichen. Gleichzeitig weisen die künstlerischen Formate auch ähnliche „Herangehensweisen“ zur Ansprache und Einbeziehung von Passanten, Bewohner*innen oder Schüler*innen auf, indem überraschende – einzigartige – Situationen durch vermeintlich vertraute Gegenstände in neuen Konstellationen kreiert wurden (Bushäuschen mit Kunst, eine Schultreppe mit Brotdosen, ein selbsternanntes kommunales Amt mit Stempel und Zertifikat).

In allen drei Kontexten ging es zunächst um die genaue Beobachtung und das Wahrnehmen von Alltagssituationen und -routinen, um sie neu gestalt- und erlebbar zu machen. Dabei entstanden dann jeweils Ideen für einen Veränderungsimpuls: Fundstücke oder „ungewöhnliche“ Orte wurden aufgegriffen und umgedeutet sowie mit neuen Funktionen und Möglichkeiten für Austausch und Kommunikation versehen. Kommunikation unter den drei genannten Aspekten „Einzigartigkeit“, „Verantwortlichkeit“, aber auch „Irrationalität“ zu ermöglichen, sei ein zentrales Ziel – so die Künstler*innen.

Im Kontext Schule wollte man vor allem die Abläufe des Schulalltags aufnehmen, aber auch die Nutzung von räumlichen Situationen und Gegenständen kennenlernen. Durch Kreativität sollte die Idee von Zwischenräumen (und Veränderungspotenzial) Gestalt annehmen – und für alle sichtbar und erlebbar werden. Schüler*innen und Lehrkräfte waren über den Zeitraum der Intervention unterschiedlich involviert. Schüler*innen wurden indirekt und direkt angesprochen. Die Lehrkräfte bzw. der Direktor wurden in die Planung der Aktionen z.T. einbezogen.

Die Erfahrungen und Gelingensbedingungen – z.B. einen engen bestehenden Kontakt zur Schule zu haben, gleichzeitig aber dennoch nicht Teil des Systems zu sein – aus dem schulischen Umfeld wurden von verschiedenen Workshop-Besucher*innen geteilt. Sie nannten die hohe Bedeutung eines (künstlerischen) Blicks von außen auf die Institution Schule und bedauerten, dass sich nur wenige Schulen zu einer solchen Kooperation bereitfänden. Gleichzeitig wurde auch die Notwendigkeit benannt, innerhalb der Institution „Verbündete“ zu finden und Verstetigung für angestoßene Veränderungen anzustreben. Wichtig war in diesem Zusammenhang – so die Erfahrung der Künstler*innen – die Unterstützung von Entscheidungsträger*innen aus Politik und Verwaltung.

Hervorgehoben wurde, dass die Entscheidungsträger*innen (besser) verstehen sollten, dass künstlerische Impulse bei der Entwicklung (eines Systems) eine wesentliche Rolle spielen können. 

Verstetigung, aber auch neue Projekte seien immer verbunden mit der (nicht leichten) Suche nach Finanzmitteln, wobei man auf unterschiedliche Programme in einzelnen Bundesländern hinwies, aber auch auf bundesweite Fördermittel, bspw. der Bundeszentrale für politische Bildung.

Am wichtigsten sei jedoch – so das Resümee -, dass künstlerische Interventionen immer konstruktive Momente und Bilder schaffen, die noch nicht (nie) da waren, die die Aufmerksamkeit schärfen und den Horizont aller Beteiligten erweitern. Es ist also erstmal bedeutsam, dass Künstler*innen und ihre Intervention überhaupt da sind und den Veränderungsimpuls und das Erleben jeder/jedes einzelnen initiieren und damit eine neue (kollektive) Wahrnehmung („Ich-Du-Wir-Alle“) ermöglichen.

Workshop 3

Abbildung 4: Übersicht der diskutierten Aspekte und Lösungsideen zu Fragen der Initiierung und Gestaltung